Hand mit Glaskugel, die einen scharfen Blick auf Baumkronen erzeugt – Visualisierung des vordergründigen Nutzens von Overlay-Tools zur Barrierefreiheit

Overlay-Tools für barrierefreie Websites – mehr Schein als Sein

„Overlay-Tools“ ist ein Sammelbegriff für Technologien beziehungsweise Produkte, die einen barrierefreien Zugang zur Website ermöglichen sollen – ohne weiteren manuellen Aufwand. Technisch gesehen wird ein Script von Drittanbietern (meist JavaScript) integriert, das den Quellcode der Website auf Client-Seite verbessern soll.

Das Marketing-Versprechen dabei ist, dass man das Thema „Digitale Barrierefreiheit“ mit einer jährlichen Lizenzgebühr von ca. 200 bis 4.000 Euro abhaken kann. Weil man quasi auf Knopfdruck den Richtlinien dafür genügt.

Das Ganze ist nicht komplett neu, denn schon in den 90er Jahren gab es Lösungen wie Readspeaker und Browse Aloud, die eine Website mit Text-to-Speech-Funktionen ausstatteten.

Die neue Generation von Overlay-Tools bedient sich – logisch! – der künstlichen Intelligenz und bietet eine Vielzahl von Optionen:  

  • Änderung des Text-Layouts: Textgröße, Zeilenabstand, Zeichenabstand etc.
  • Vergrößerungen allgemein
  • Farbliche Anpassungen: Hervorhebung von Elementen, allgemeine Kontrastansicht usw.
  • Abschalten von Animationen
  • Automatische Generierung von (fehlenden) Alt-Tags auf Basis einer Bild-Analyse
  • Hervorhebung von Navigationspunkten im Rahmen der Tab-Navigation (Focus-State)
  • Vorlesen von Inhalten
  • und noch einige mehr

An der Vielzahl von Overlay-Anbietern sieht man, dass die Marketing-Versprechen verfangen. Und die Referenzen – von Playmobil über Coca-Cola bis zum FC St. Pauli – sind auf den ersten Blick beeindruckend.

Hier einige populäre Overlay-Tools, die auch hierzulande eingesetzt werden; dazu je eine beispielhafte Website, die mit dem Tool arbeitet

 

Warum funktioniert die Tastaturnavigation nicht?! Oh nein: Die haben die Tastaturnavigation blockiert, um mich zu zwingen, ihr Tool zu benutzen. Ich muss also erst auf diese Schaltfläche klicken, um die Tastaturnavigation zu aktivieren! Dann können sie auch gleich den Mauszeiger deaktivieren und mich fragen, ob ich die Maus-Navigation aktivieren will ...

Eine frustrierte Nutzerin, die auf Tastaturnavigation angewiesen ist

Mangelnder praktischer Mehrwert für Menschen mit Einschränkungen

Schaut man als „Laie“ auf den Funktionsumfang der Overlay-Tools, ist man zunächst beeindruckt. Da scheint verdammt viel möglich zu sein, und die Einbettung ist ohnehin einfach.

ABER: Nehmen wir an, Sie haben seit Jahren eine ausgeprägte Sehschwäche und möchten in diversen Online-Shops nach einem Geschenk stöbern: 

  • Wie wahrscheinlich ist es, dass Sie bis zum heutigen Tag mit den Standard-Einstellungen Ihres PCs oder MACs arbeiten? Und Sie deshalb Betriebssystem, Software und Browserinhalte nur eingeschränkt und damit mit großer Mühe wahrnehmen?
  • Wie viel Lust haben Sie, wenn Sie beim Stöbern 20 Google-Suchen und 30 Websites besuchen, bei jeder aufgerufenen URL ein Plugin für Barrierefreiheit ausfindig zu machen und dieses nach Ihrem Bedarf zu konfigurieren?

Menschen mit Handicaps wissen sich gut zu helfen und verwenden ihre gewohnten Hilfsmittel. Ein Widget bietet bestenfalls eine redundante Funktionalität zu dem, was man als Betroffener bereits hat. Ob Android oder iOS, ob Windows oder Mac – die Betriebssysteme bieten heute eine Vielzahl von Funktionen, die den Zugang zu Software bzw. Inhalten für alle Arten von Einschränkungen erleichtert. Dazu gibt es zahlreiche Browser-Plugins für jeden Bedarf,

Die Anforderung der digitalen Barrierefreiheit ist deshalb logisch und sinnvoll: Websites sollen auf assistive Technologien richtig reagieren. Der Ansatz der Overlay-Tools steht dem entgegen: Hier sollen die Nutzer agieren.

Kleine Analogie zur Offline-Welt: Das wäre in etwa so, als müssten Sie vor dem Betreten eines Geschäfts am Eingang Ihre eigene Brille abgeben eine andere, die der Laden bereitstellt, auswählen und probieren. Danach dürfen Sie dann shoppen.

Nun gibt es das Argument, dass die Einstellungen innerhalb der Overlay-Tools per Cookie gespeichert werden. Heißt: Wenn Websites das gleiche Overlay verwenden, würden diese beim Besuch automatisch im gewünschten „Zustand“ sein. Mal abgesehen von der praktischen Wahrscheinlichkeit bei Milliarden von Websites – war da nicht was mit dem Datenschutz?!

Herausforderung Datenschutz

Das Hinzufügen eines Overlays zu Ihrer Website kann bestehende gesetzliche Vorgaben verletzen – konkret: die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO).

Wie im vorherigen Absatz beschrieben, setzen Overlay-Tools Cookies, durchaus mit guter Absicht. Beim Aktivieren einer solchen Einstellung gibt es aber keinen Hinweis darauf, dass man getrackt wird, und ein explizites Opt-out findet man auch nicht. 

Zweites Problem: Overlays können automatisch bestimmte Einstellungen aktivieren – abhängig von der erkannten assistiven Technologie auf dem Rechner. Damit kann man auf eine Behinderung der gerade surfenden Person schließen. In bestimmten Fällen, z. B. wenn blinde oder sehbehinderte Menschen Bildschirm-Lesegeräte verwenden, werden sogar noch weitere Details über die Art ihrer Behinderung aufgedeckt. In jedem Fall handelt es sich um sensible persönliche Informationen, über die man nicht mehr die Hoheit besitzt.

Eingeschränkte Funktionalität

Wer sich etwas näher mit digitaler Barrierefreiheit auseinandersetzt und um deren Komplexität weiß, wird nicht erwarten, dass Overlay-Tools die Anforderungen tatsächlich vollständig abbilden. 

Richtig: Das tun sie definitiv nicht!

Schon der notwendige Aufruf der Widgets birgt Probleme:

  • Gelangt man nur über die Tastatur zum Overlay-Einstellungsmenü?
  • Sind die Widgets aufrufbar, bevor ein Ereignis stattfindet, das der Barrierefreiheit entgegensteht? Zum Beispiel eine nicht abschaltbare Animation?
  • Sind die Tools in sich barrierefrei (Tab-Steuerung, Kontraste etc.)?

Allein bei diesen Punkten hakt es in vielen Fällen, und dabei ist noch nicht berücksichtigt, was die Tools mit den Inhalten einer Seite machen – oder eben nicht. 

Ich habe viele Overlays getestet und bei jeder Einbindung Mängel entdeckt. Diese Seiten wären also nicht barrierefrei nach BITV 2.0 und auch nicht nach WCAG 2.1 (AA)

Einige Beispiele für diese Mängel:

  • Keine Generierung von Untertiteln für Videos
  • Auszeichnung von reinen Schmuckbildern mit Alt-Tags (gegen die Regel) oder Generierung von nicht treffenden Alt-Tags. Denn die künstliche Intelligenz, die das Bild technisch analysiert, ist nicht (immer) in der Lage, den Kontext korrekt zu interpretieren bzw. den Bildinhalt klar wiederzugeben. (Ich gebe zu: Das kann in den nächsten Jahren besser werden.)
  • Keine Optimierung von Texten: Ein Tool kann feststellen, ob eine Seite oder ein Link einen Titel hat oder ob Überschriften vorhanden sind. Aber nicht, ob diese Elemente aussagekräftig sind oder – im Fall von Headlines – ob diese hierarchisch sinnvoll angeordnet sind.
  • Falscher Umgang mit verstecktem Content: Automatisierte Tools können nicht entscheiden, welche Inhalte (z. B. für Screenreader) ausgeblendet werden sollen. Normalerweise wird dies mit ARIA oder CSS gemacht – leider oft falsch.
  • Einschränkungen bei der Tab-Navigation: In der Regel beheben die Tools Mängel diesbezüglich nur zum Teil. Gerade eine falsche Tab-Reihenfolge oder die fehlende bzw. nur kontrastarme visuelle Kennzeichnung können weiterhin eine Barriere darstellen.
  • Unzureichende Formular-Intelligenz: Ob ein Label vorhanden ist, das ist ermittelbar. Aber die Tools können nicht feststellen, ob die Nutzer beim Ausfüllen des Formulars bzw. bei den erscheinenden Fehlermeldungen optimal geführt werden. Oder ob Formular-Elemente und -Meldungen von Screnreadern überhaupt vorgelesen werden.
Screenshot von fcstpauli.com mit Overlay von Eyeable
Das Overlay Eyeable konnte ich nicht via Tastaturnavigation erreichen. Zudem fehlt trotz Overlay der visuelle Fokus bei der Tastatur-Navigation. Und viele Bereiche sind per Tastatur generell nicht erreichbar.
Screenshot darmstadt.de mit Overlay-Tool Digiaccess für digitale Barrierefreiheit
Bei darmstadt.de springt man immerhin beim ersten Tab zu einer Option, die Tastaturnavigation zu aktivieren. Die in der Folge visuell hervorgehobenen Tab-Stopps erfüllen aber nicht die notwendigen Kontrast-Anforderungen der Barrierefreiheit, zudem ist der visuelle Fokus bei der ersten News-Galerie nicht mehr analog zur Tab-Auswahl.

Neue Probleme durch automatisierte Tools für Barrierefreiheit?

Nicht nur, dass sich bei weitem nicht alle Barrieren via Widget automatisch beseitigen lassen, es können sogar neue Probleme durch das jeweilige Tool hinzukommen:

  • Missbrauch von ARIA-Attributen: Diese überschreiben nämlich immer alle anderen Auszeichnungen, sodass bestimmte Informationen verloren gehen können
  • Verschlechterung der Zugänglichkeit via Tastatur: Manchmal können bei aktiviertem Tool bestimmte Inhalte nicht mehr per Tastatur erreicht werden.
  • Sicherheitslücken: Der Website-Betreiber öffnet seine Seite für das Widget. Und damit die Tür, auch anderen Code in die Website einzuschleusen.

Rund 800 Experten haben das sogenannte „Overlay-Factsheet“ unterzeichnet, das sich gegen die Verwendung von Overlays als selig machende Alleskönner ausspricht. Dazu gehören unter anderem:

  • Mitwirkende und Redakteure der WCAG-, ARIA- und HTML-Spezifikationen
  • Interne Experten für Barrierefreiheit für Unternehmen wie Google, Microsoft, Apple, Shopify, Dell, Expedia, eBay oder Sapient sowie von Hochschul-Einrichtungen: z. B. Syracuse, Hochschule der Medien Stuttgart, University of Massachusetts, San Francisco State University oder das MIT
  • Anwälte für Behinderte
  • Mitwirkende an Screanreader-Technologien wie JAWS und NVDA
  • Zahlreiche Endnutzer mit Behinderungen
If a site currently has fundamental accessibility problems – such as missing alternative text for images, missing structural markup that correctly and semantically identifies page elements (headings, lists, labels/names for form controls), incorrectly implemented interactive widgets and controls that cannot be operated correctly with a keyboard and/or assistive technologies – bolt-on solutions won’t be the answer, and they won’t automagically fix these underlying issues.

Steve Faulkner, Mitglied der W3C Web Platforms Working Group und der W3C ARIA Working Group sowie Herausgeber mehrerer Spezifikationen beim W3C

Vollautomatische Erfüllung der EN 301549? Geht nicht ...

Digitale Barrierefreiheit ist europaweit durch die Umsetzungsnorm EN 301549 definiert, die wiederum auf der WCAG 2.1 (Level AA) aufbaut. Und die dafür verantwortliche Arbeitsgruppe W3C Web Accessibility Iniative (WAI) bezieht klar Stellung, indem sie sämtlichen softwareseitigen Lösungen die Fähigkeit abspricht, vollautomatisch ALLE Aspekte der Barrierefreiheit zu erkennen bzw. zu lösen.

Wenn nun Anbieter von Overlay-Tools versprechen, dass sie eine Website vollständig barrierefrei machen, dann widersprechen sie der W3C Arbeitsgruppe. Und nicht nur deshalb sind diese Widgets eine Mogelpackung – nicht nur für mich. 

Markus Wierl Porträtfoto
Markus Wierl
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