Richtlinien und Gesetze zur digitalen Barrierefreiheit: von der WCAG bis zur BITV
Wofür stehen welche Abkürzungen?
Bevor wir in die Tiefe gehen und etwas Licht in den Richtlinien- und Gesetze-Dschungel bringen, entschlüsseln wir die wichtigsten Abkürzungen, die wir in diesem Beitrag verwenden:
- W3C: World Wide Web Consortium (internationale Gemeinschaft aus einem hauptamtlichen Mitarbeiter, Branchenexperten und mehreren Mitgliedsorganisationen)
- UN-BRK: UN-Behindertenrechtskonvention
- WCAG: Web Content Accessibility Guidelines
- WAD: Web Accessibility Directive
- EAA: European Accessibility Act
- BITV: Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung
- BGG: Behindertengleichstellungsgesetz
- BFSG: Barrierefreiheitsstärkungsgesetz
- ICT: Information and Communication Technology
Am Anfang stehen die Vereinten Nationen
Die Grundlage aller Bemühungen und Initiativen zur (digitalen) Barrierefreiheit legten die Vereinten Nationen bereits 2006: Die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete das „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“
Nachdem es 20 Staaten ratifiziert hatten, ist es zwei Jahre später international in Kraft getreten. Die Bundesrepublik Deutschland hat die UN-BRK am 24. Februar 2009 ratifiziert. Seit diesem Jahr ist sie geltendes Recht in Deutschland, welches von allen staatlichen Stellen umgesetzt werden muss.
Die UN-BRK konkretisiert die anerkannten allgemeinen Menschenrechte in Bezug auf Menschen mit Behinderungen. Denn weltweit hat man die Erfahrung gemacht, dass Menschen mit Behinderungen nicht ausreichend vor Diskriminierung und Ausgrenzung geschützt sind.
Nun ist es staatliche Pflicht, die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu achten, zu sichern und zu schützen.
Übrigens haben bis heute 185 Parteien bzw. Staaten die Konvention unterschrieben, 164 haben sie ratifiziert.
WCAG 2.0 bis 2.2 – internationale Richtlinien zur Barrierefreiheit im Netz
Bevor die EU und Deutschland (mit den üblichen Verkomplizierungen) konkrete Richtlinien für die digitale Barrierefreiheit aufstellten, gab es bereits die WCAG. Organisation und Einzelpersonen auf der ganzen Welt haben diese Richtlinien im Rahmen des W3C-Prozesses geschaffen, um Web-Inhalte einfach zugänglich zu machen – für jeden.
Die WCAG-Dokumente beschreiben, wie Web-Inhalte für Menschen mit Behinderungen besser zugänglich gemacht werden können. Unter Inhalten werden Informationen wie Text, Bild, Bewegtbild, Töne verstanden. Aber auch Codes und Auszeichnungen, die Strukturen, Markierungen, Hilfestellungen definieren.
Historie der WCAG
- Die WCAG 2.0 wurden 2008 veröffentlicht.
- WCAG 2.1 wurde 2018 veröffentlicht.
- Der Entwurf zur WCAG 2.2 soll im Jahr 2023 fertiggestellt werden. Ob das wirklich klappt, ist nicht sicher.
WCAG 2.0 und WCAG 2.1
In jedem Fall gelten aktuell die WCAG 2.1 als weltweite Norm – wobei die Anforderungen bzw. „Erfolgskriterien“ der Version 2.0 enthalten sind. Es kamen lediglich weitere Erfolgskriterien hinzu.
Damit sind Inhalte, die den WCAG 2.1 entsprechen, mit den WCAG 2.0 automatisch vereinbar, quasi rückwärtskompatibel. Heißt auf gut Deutsch: Richten wir uns nach WCAG 2.1, sind wir auf der sicheren Seite. Wenn da nicht die EU und die deutsche Bürokratie wären ...
Die EU-Richtlinien zur Barrierefreiheit im Netz
2016 hat die EU die WAD verabschiedet, unter der Nummer 2102. Diese Direktive betrifft
- öffentliche Einrichtungen,
- Bundes- und Landes-Behörden (Ministerien, Landesämter etc.)
- Krankenhäuser,
- Universitäten,
- Bibliotheken,
- Polizeistellen,
- Gerichte
- und weitere.
Salopp gesagt: alle Einrichtungen, in denen der Staat mehrheitlich drin hängt.
Seitdem haben sich die EU-Mitgliedstaaten in Sachen Barrierefreiheit von Websites und mobilen Apps danach zu richten – mit einer entsprechenden Umsetzungsfrist.
Der technische Standard EN 301 549
In Europa ist Barrierefreiheit im Web durch die „Europäische Norm“ Nummer 301 549 definiert, das ist quasi die technische Ausführung der WAD 2102. Die WCAG 2.0 sind dort enthalten.
Der European Accessibility Act mit Auswirkungen auf die Privatwirtschaft
Mit dem EAA, der 2019 beschlossen wurde, sind die Vorgaben zur Barrierefreiheit im Web auch für weite Teile der Privatwirtschaft verpflichtend. Zum Beispiel sind die Hersteller folgender Produkte zur digitalen Barrierefreiheit ihrer Bedien-Software verpflichtet:
- Computer-Hardware und -Betriebssysteme
- Smartphones
- E-Books
- Fernsehgeräte
- Terminals aller Art: Fahrkarten-, Check-in-, Bank-Automaten ...
Aber die digitale Barrierefreiheit gilt künftig auch für digitale Dienstleistungen:
- Telekommunikationsdienste (Telefonie, Messenger etc.)
- Websites und Apps von „Personenbeförderungsdiensten“ (also Bahn, Tarif-Verbünde etc.)
- Bank- und Versicherungsdienstleistungen
- Anbieter von E-Book-Inhalten
- Online-Shops und E-Commerce-Apps, die an Endkunden verkaufen
- Dienstleistungen, die Online-Prozesse mit Geschäftsrelevanz beinhalten, also Termin-Buchungen, Reservierungen und Co.
Die letzten beiden Punkte sind diejenigen, die viele Unternehmen aufhorchen lassen (sollten). Eine Ausnahme gibt es allerdings: Die digitale Barrierefreiheit gilt nicht für Kleinstunternehmen. Die sind folgendermaßen definiert:
- unter zwei Millionen Jahresumsatz (oder Bilanzsumme unter zwei Millionen) und
- weniger als 10 Festangestellte
Das bedeutet aber: Ein Nagelstudio mit einer Million Jahresumsatz und 11 Beschäftigten, das eine Terminbuchung oder den Verkauf von Nagellack über seine Website anbietet, muss diese barrierefrei gestalten.
Richtlinien und Gesetze zur Barrierefreiheit in Deutschland
Das Deutsche Grundgesetz und das BGG
Der Artikel 3, Absatz 3, Satz 2 im Grundgesetz besagt: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“.
Damit ist die Grundlage für die digitale Barrierefreiheit eigentlich schon gelegt. Es gibt aber noch mehr ... zum Beispiel das 2006 in Kraft getretene AGG, im Prinzip eine erweiterte Fassung des zivilrechtlichen Antidiskriminierungsgesetzes.
BGG – Gleichstellung behinderter Menschen
Wir erinnern uns: 2016 hat die EU die WAD verabschiedet, die Folge in Deutschland war 2018 das BGG. Es soll die Benachteiligung von Menschen mit Behinderung beseitigen sowie ihre gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben gewährleisten. Und ihnen schließlich eine selbstbestimmte Lebensführung ermöglichen. Die Überschneidungen mit den oben genannten Gesetzen liegen auf der Hand.
BITV 2.0 – die eigentliche Verordnung
Die BITV gibt es in Deutschland schon seit 2002. Sie basiert in wesentlichen Teilen auf den Vorgaben der WCAG. Ihre neueste Fassung ist 2019 als Version 2.0 in Kraft getreten, um im Zusammenspiel mit dem BGG die EU-Richtlinie 2102 umzusetzen. Ich gebe das hier etwas vereinfacht wieder – sonst wird es ganz und gar nicht barrierefrei ...
Ein Detail sei aber vermerkt: Die BITV 2.0 gab es schon vor 2019. Und obwohl man die Verordnung um Erfolgskriterien der WCAG 2.1 erweitert hat, ist keine neue Versionsnummer hinzugefügt worden.
Darüber hinaus gibt die Neufassung Einzelheiten zur „Erklärung zur Barrierefreiheit“ an. Und sie gibt vor, welche Inhalte barrierefrei zu gestalten sind und welche nicht. Zum Beispiel gilt die BITV 2.0 nun auch für elektronische Verwaltungsabläufe, die seit 2021 barrierefrei – sagen wir: hätten – sein müssen ...
Die Verordnung gilt für alle öffentlichen Stellen des Bundes. Öffentliche Stellen des Bundes sind nicht nur die Einrichtungen der Bundesverwaltung, sondern auch die Stellen, die das Vergaberecht anzuwenden haben und dem Bund zuzurechnen sind (vgl. § 12 BGG – Wikipedia-Erläuterungen dazu).
Barrierefreiheitsstärkungsgesetz und Übergangsfristen
Das im Juli 2021 verabschiedete Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) führt den European Accessibility Act (EAA) in nationales Recht über. Die Verordnung zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSGV) wurde am 15.06.2022 verabschiedet und legt fest, dass die o. g. Produkte und Dienste ab Juni 2025 barrierefrei sein müssen.
Aber welche Übergangsfristen gibt es? Das wird gerade im Hinblick auf Websites und Apps kontrovers diskutiert. Häufig findet man die Info, dass auch für Online-Shops, die bereits in Betrieb sind (also nicht neu gelauncht werden), eine Übergangsfrist bis zum 27.06.2030 gilt. Letztere gilt in jedem Fall für Produkte wie Fahrkarten-Automaten oder TV-Geräte.
Die Bundesfachstelle Barrierefreiheit hat zum Thema Online-Shops nun ein konträres, aber eindeutiges Statement veröffentlicht: In einem Video zu den gesetzlichen Grundlagen sagt der Jurist Sven Niklas Folgendes:
- „Websites und Apps werden nicht als Produkte aufgezählt.“
- „Websites und Apps haben diese Fristen nicht.“
Zum Video (relevante Stelle ca. ab Minute 42)
Nach dieser Auslegung müssen Online-Shops bis zum 28.5.2025 barrierefrei sein, um dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz zu entsprechen. Es wird also Zeit, das Thema anzugehen!